Die Erfindung der Langsamkeit

Bahnreisen in Australien

Rasso Knoller
10.12.2018

 

Mit der Bahn lernt man Australien von einer anderen – und für viele unbekannten – Seite kennen. Eine andere Sichtweise auf die Zeit gibt es kostenlos obendrauf.

Wer in Australien Zug fährt, muss Zeit haben.

So wie Mary Richards. Die ältere Dame in den Siebzigern hat in Perth ihre Schwester besucht und ist jetzt mit dem Indian Pacific 4352 Kilometer nach Sydney unterwegs – ans andere Ende des Kontinents. Drei Tage wird sie im Zug sitzen, mit dem Flugzeug hätte sie in vier Stunden ihr Ziel erreicht. Billiger ist die Zugfahrt auch nicht, im Gegenteil. Während man schon ab umgerechnet 200 Euro einen Flug quer über den australischen Kontinent buchen kann, kostet die Fahrt mit dem Zug fast das 15-fache.

Der wahre Zugreisende verliert während seiner langen Reise aber keine Zeit, er gewinnt sie. Zeit für sich selbst, Zeit zum Lesen und Nachdenken und Zeit, um Fremde kennenzulernen. Im Zug verbringt man mehrere Tage mit denselben Menschen, Gespräche muss man nicht in Hektik und mit ständigem Blick auf die Uhr führen. Genau hinzuhören und auf Zwischentöne zu achten, ist plötzlich keine Zeitverschwendung mehr.

Weil der Zug und seine Insassen viel Zeit haben, werden die vorbeigelassen, die es eiliger haben. Immer wieder hält der Indian Pacific an, um endlos lange Frachtzüge vorbeizulassen. Auch wenn der Indian Pacific und seine Reisenden eine Auszeit vom Alltag genommen haben, Australiens Wirtschaft muss mit voller Kraft weiterlaufen.

Weißwein im Speisewagen

Mary Richards ist meine Tischnachbarin im Speisewagen. Der sieht ein bisschen aus wie das pompöse Restaurant eines Luxushotels aus den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts; allerdings eines Luxushotels in einer entlegenen Kleinstadt. Mary Richards ist eine feine Dame. Zum Abendessen hat sie ihr bestes Kleid angezogen – bunte Blumen auf rotem Stoff. Wie sie haben es viele Reisende gemacht und haben ihre Ausgehkleidung aus dem Koffer geholt. Andere sitzen wie ich in Jeans und Hemd bei Tisch.

Mary Richards bestellt: Suppe, Steak und Pawlowa, das australische Nationaldessert. Die süße Baisertorte wurde nach einer russischen Tänzerin benannt, die 1919 in Down Under auf Tournee war.

Dazu einen guten Weißwein, einen Chardonnay von Penfolds. Das ist ihre Hausmarke.

„Schön kühl“, soll er sein, wie sie bei der Bestellung betont. Mary Richards war früher Lehrerin. Doch das ist schon lange her. Ihren Beruf verleugnen kann sie aber noch immer nicht. Und so wird das Abendessen zu einer kleinen Weiterbildung in Sachen Westaustralien. Vom Boom im Bergbau bekomme ich zu hören und davon, wie gut die Arbeitskräfte in diesem Sektor bezahlt werden. Als der Kellner den Wein auf den Tisch stellt, senkt sie die Stimme und sagt: „Einen solchen Job will heute doch niemand mehr machen.“

Mir scheint der Beruf des Chefkellners in einem australischen Überlandzug an diesem Abend durchaus erstrebenwert. Auch der stellt nämlich nicht husch, husch die Teller auf die Tische, auch er nimmt sich Zeit für ein freundliches Wort und hier und da einen kleinen Plausch. Mary Richard hat es ohnehin nicht eilig mit dem Essen. So hat noch viel zu erzählen, bevor die Suppe kommt.

Mit 12 Rentnern ins Outback

Luxus wie im Indian Pacific darf man auf der Fahrt im Westlander nicht erwarten. Der Zug rattert von Brisbane, der Hauptstadt Queenslands nach Charleville, einem gottverlassenen Nest im Outback. Einen wirklichen Grund, dorthin zu fahren, gibt es eigentlich nicht. Der Reiseführer verspricht in ein paar dürren Zeilen Internet in der örtlichen Bibliothek und Himmelsbeobachtung mit einem Hochleistungsteleskop. Einmal im Jahr drängen sich die Fremden aber dann doch durch Charleville. Allerdings nur auf der Durchreise. Dann wenn in Birdsville, noch viel weiter draußen im Outback, das legendäre Pferderennen stattfindet, legen viele Fans in Charleville ein Pause ein – bevor sie dann die restlichen knapp tausend Kilometer in Angriff nehmen.

17 Stunden ist der Westlander für die 777 Kilometer von Brisbane nach Charleville unterwegs. Das jedenfalls verspricht der Fahrplan. Der aber wird fast nie eingehalten. Auf dieser Strecke ist das auch egal. Wer die Uhr im Blick haben muss, steigt ohnehin nicht in den Zug. Zwölf Passagiere treten zusammen mit mir die Reise an. Keiner von ihnen ist unter 60, und keinen stört es, dass der Zug bereits mit vier Stunden Verspätung den Bahnhof von Brisbane verlässt.

Sandwich statt Steak

Auch im Westlander ist der Speisesaal der Treffpunkt der Zugfahrer. Nur, dass man hier nicht bedient wird, sondern sich den Snack an der Bar selbst kauft. Sandwich statt Steak, Dosenbier statt Flaschenwein ist die Devise.

In Kontakt mit den Mitreisenden kommt man aber auch hier schnell. Schweigen ist die Sache der Australier ohnehin nicht, auf Zugreisen übertreffen sie sich noch mal selbst. Ohne Gespräch an der Bar zu trinken ist unmöglich.

„Die Leute, die im australischen Outback leben, sind die freundlichsten der Welt“, sagt Piet Smeds. Vor mehr als 30 Jahren war der in Holland geborene Mann nach Australien gekommen. Inzwischen heißt er natürlich Peter. Seit er vor einigen Jahren in Rente ging, verbringt er jeden Urlaub im Outback. Immer an einem anderen Ort, aber immer weit weg von der Küste.

„Die Touristen, die nach Australien kommen, besuchen Sydney, Melbourne oder Cairns, aber das hier ist das richtige Australien“, sagt Smeds und deutet mit dem Zeigefinger auf die Landschaft aus roter Erde jenseits der staubigen Scheibe.

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